Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Thesen und Reflexionen

Berufsabschluss für Erwachsene: Neue Daten – neue Fragen

Im Rahmen des Projekts «Berufsabschluss und Berufswechsel für Erwachsene» hat das SBFI zwei Studien durchführen lassen. Sie zeigen, dass zurzeit pro Jahr etwa 2500 Personen, die über 25 Jahre alt sind, erstmals eine berufliche Grundbildung abschliessen. Das sind 42 Prozent aller Abschlüsse von Erwachsenen ab 25 Jahren. Weiter erfährt man viel über die Haltung von mittleren und grösseren Betrieben zur Nachholbildung. Aussagen, wie weit die Erwartungen der Absolvierenden erfüllt werden und wie die Ausbildung im Arbeitsmarkt aufgenommen werden, sind teilweise widersprüchlich und werden zu diskutieren geben.


In beiden Berichten wurden bestehende Eindrücke und auf der Erfahrung von Fachleuten beruhendes Wissen weitgehend bestätigt. Neu und bereichernd war die Reflexion der Thematik mithilfe wissenschaftlicher Konzepte. In der Befragung der Arbeitsgebenden beispielsweise werden die «idealtypischen Ausbildungsmotive» Investitionsmotiv, Produktionsmotiv, Reputationsmotiv, Soziales Motiv, Screenings Motiv auf die Thematik angewendet, und zur Analyse der Absolventenbefragung wird die Faktorenanalyse eingesetzt.

1. Studie zur Sicht der Arbeitgebenden

  1. Bedarf: Wo sehen OdAs und Betriebe einen Bedarf nach mehr Berufsabschlüssen für Erwachsene?
  2. Nutzen: Welchen Nutzen sehen die OdAs und Betriebe in der Unterstützung qualifizierungswilliger Erwachsener – auch im Vergleich zu jugendlichen Lernenden?
  3. Merkmale: Wie schätzen die Betriebe das Potenzial ihrer Mitarbeitenden ohne arbeitsmarktrelevanten Abschluss zur Erlangung eines Berufsabschlusses ein? Welches Profil haben diese Mitarbeitenden?

Generell macht der Bericht deutlich, dass die Thematik für viele Betriebe und auch für manche OdAs recht neu ist. So wird die Tatsache kaum rezipiert, dass es auch um Personen mit veralteten, nicht mehr gefragten Grundausbildungen geht.

Zur Beantwortung dieser Fragen wurden zwölf OdAs und 40 Betriebe befragt (17 Grossbetriebe, 13 mittelgrosse und 10 Kleinbetriebe). Betriebe und OdAs wurden so ausgewählt, dass deren Ausbildungsberufe etwa die Hälfte aller Lernenden repräsentieren.

Über die Resultate der Untersuchung gibt ein rund 50-seitiger Schlussbericht Auskunft, startend mit einer zweiseitigen Zusammenfassung. Diese gibt eine gute Übersicht, so dass hier auf eine weitere Zusammenfassung verzichtet werden kann.

Für viele Branchen eine neue Fragestellung

Generell macht der Bericht deutlich, dass die Thematik für viele Betriebe und auch für manche OdAs recht neu ist: Sie wurde intern noch wenig diskutiert, es gibt kaum durchdachte Strategien und – mindestens bei den Betrieben – nur sehr oberflächliche Kenntnisse der Wege, Möglichkeiten und Schwierigkeiten. So ist wohl auch die durchwegs geäusserte Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand zu verstehen.

Die Ausweitung der Thematik auf Personen mit veralteten, nicht mehr gefragten Qualifikationen, die das SFBI richtigerweise vorgenommen hat (Personen ohne «arbeitsmarktrelevante Ausbildung») ist noch kaum rezipiert.

Die Antworten der Befragten dürften sich grossmehrheitlich auf die Qualifizierung bewährter eigener Mitarbeitenden beziehen, selten auf die Aufnahme von betriebsfremden Personen, die einen Abschluss erwerben möchten.

Betriebsorientierte Weiterbildung im Vordergrund

In der Bildungspolitik wird ja die Qualifizierung von Personen im Alter über 25 Jahren als Beitrag zur Deckung des Fachkräftemangels verstanden. Die Antworten der Vertretungen von Betrieben und Branchen deuten darauf hin, dass für sie andere Möglichkeiten dazu im Vordergrund stehen, vielleicht mit Ausnahme des Gesundheitswesens.

Dies heisst keineswegs, dass sich die Betriebe und OdAs nicht für die weitere Qualifizierung ihrer Mitarbeitenden engagieren. Aber sie orientieren sich in diesem Zusammenhang mehr an der Sicherstellung der für die aktuelle Arbeit erforderlichen Qualifikationen als an der Vermittlung einer Grundausbildung. Anders gesagt: Sie legen Wert auf Weiterbildung, nicht auf Grundbildung. Fachkurse wie Kranführer- oder Maschinistenkurse für Bauleute oder Kurse zur Beherrschung einer neuen Software haben eine höhere Priorität als die Vorbereitung auf ein EFZ oder ein EBA. Und werden zurzeit als ausreichend betrachtet. Mehr als bei Jugendlichen dürfte das Handeln kurzfristig ausgerichtet sein und daher eher von «Produktionsmotiven» als von «Investitionsmotiven» gesteuert werden.

Laut Studie sind Informationskampagnen mit dem Ziel, die Bereitschaft für die Qualifizierung von Erwachsenen zu erhöhen, in erster Linie für grössere und mittlere Betriebe erfolgversprechend. Persönlich bin ich gegenteiliger Meinung.

Die Berufsbildung orientiert sich seit ihrer Entstehung vor 150 Jahren an wirtschaftspolitischen Postulaten. Die Zurückhaltung der Betriebe lässt vermuten, dass diese Sichtweise bei der Qualifizierung von Erwachsenen ohne arbeitsmarktrelevante Ausbildung nicht ausreicht. Der Ertrag von diesbezüglichen Massnahmen wird skeptisch eingeschätzt. Es erstaunt deshalb nicht, dass die zurzeit laufenden grösseren Projekte (z.B. Format und Enter) sozialpolitisch begründet werden.

Kleine Betriebe nicht unterschätzen!

Die Autorinnen gehen davon aus, dass Kleinbetriebe nur beschränkt für die Ausbildung von Erwachsenen in Frage kommen. Es wurden denn – neben OdAs – auch nur zehn Kleinbetriebe befragt, wovon lediglich drei in den letzten fünf Jahren erwachsene Personen ausgebildet haben. Auf dieser Basis wird im Fazit die Meinung vertreten, dass «Informationskampagnen mit dem Ziel, die Bereitschaft für die Qualifizierung von Erwachsenen zu erhöhen, in erster Linie für grössere und mittlere Betriebe erfolgversprechend sind». (S. 51)

Persönlich bin ich gegenteiliger Meinung. Die Absolventenstudie zeigt auf, dass die Hälfte aller 2015 erreichten Abschlüsse von Erwachsenen in oder während einer Anstellung in Unternehmen mit 1-49 Mitarbeitenden erworben wurden (Schmid et al. 2017, S. 92). Die im Bericht erwähnten Nachteile und Probleme von Kleinbetrieben können durch Zusammenarbeit in Lehrbetriebs- und vor allem in Ausbildungsverbünden behoben werden. Solche Zusammenschlüsse zu fördern wäre eine gute Möglichkeit zur Schaffung von Ausbildungsplätzen für Erwachsene. Dies umso mehr, als sich die grössere Selbständigkeit und die grössere Motivation von Erwachsenen gerade bei Kleinbetrieben positiv auf den «Produktionsnutzen» auswirken. Informationskampagnen, die sich an Betriebe wenden, müssten aber die unterschiedlichen Verhältnisse bei kleinen und grösseren Betrieben berücksichtigen, in dem sie bei kleineren Schwerpunkte bei Entlastungsmöglichkeiten und bei der  grösseren Selbständigkeit von Erwachsenen legen.

Die Studie dürfte die Situation in Gross- und Mittelbetrieben gut wiedergeben. Um mit beschränkten Mitteln die Situation bei Kleinbetrieben zu erfassen, drängen sich Gespräche mit Fachleuten auf, die täglich Ausbildungsfragen mit Betrieben diskutieren. Ich denke in erster Linie an Berufsinspektorinnen und an diejenigen RAV-Mitarbeiter, die mit dem Auftrag, Erwachsene als Arbeitende oder Lernende unterzubringen, den Kontakt zu den Arbeitgebern pflegen. Aber auch Mitarbeitenden von OdA oder Berufs- und Laufbahnberatungen befassen sich laufend mit den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Betriebe. Mit ihnen könnten wohl rasch handlungsleitende Ergebnisse erzielt werden, vor allem, wenn mit Methoden der Grossgruppenarbeit statt mit den üblichen Methoden der Sozialwissenschaften gearbeitet würde.

Die Studie unterscheidet nicht nach Sprachregionen, denn im Rahmen der Studie konnten nur zwei Betriebe aus dem Tessin und neun aus der Westschweiz befragt werden. Ich frage mich, ob die gewonnen Erkenntnisse auch auf die beiden Regionen der Suisse latine angewendet werden können.

2. Studie zur Sicht von betroffenen Erwachsenen

Die Resultate dieser Befragung geben Stoff für Diskussionen.

Die Studie von Martin Schmid, Sabina Schmidlin und David Stefan Hischier untersuchte die Bedürfnisse und Erfahrungen von Erwachsenen im Zusammenhang mit einem beruflichen Erst- oder Zweitabschluss. Dafür wurden 11 Personen telefonisch befragt, die sich für eine Ausbildung interessiert, diese aber nicht angetreten haben. Weiter wurden 37 Personen interviewt, die ihre Ausbildung abgebrochen haben. Diese Interviews dienten einerseits der Vorbereitung einer Absolventenbefragung, anderseits wurden Gründe für das Interesse an einer solchen Ausbildung und Hindernisse bei der Umsetzung erfragt. Schliesslich wurde eine elektronische Vollerhebung aller 6000 Personen im Alter von 25 und mehr Jahren durchgeführt, die 2015 eine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Auch hier findet sich im Netz eine Zusammenfassung.

Statistik: Erstmals gesicherte Angaben zu Erst- und Zweitausbildung

Dank dem Einsatz der neuen «Längsschnittanalysen im Bildungsbereich» (LABB) des Bundesamtes für Statistik konnte erstmals der Anteil der Erstausbildungen an den Abschlüssen ermittelt werden. Die bisherigen Schätzungen reichten von 10% bis 90%, gemäss der LABB sind es 42%. Also haben rund 2500 Personen im Alter von mindestens 25 Jahren 2015 zum ersten Mal eine eidgenössisch zertifizierte berufliche Grundbildung abgeschlossen. Dies ist eine wichtige, neue Erkenntnis. Allerdings muss bei den Zweitausbildungen unterschieden werden zwischen Personen ohne und mit arbeitsmarktrelevanter Grundausbildung (vgl. Kasten).

Der Bericht macht auch Aussagen über den gewählten Weg zum Abschluss: 47% haben den Abschluss über eine reguläre oder eine verkürzte Grundausbildung angestrebt, 43% über die direkte Zulassung zur Abschlussprüfung und 10% über das Validierungsverfahren. Diese Zahlen weichen markant von bisherigen, als gültig angenommenen Werten ab. Die Unterschiede werden im Bericht nicht diskutiert.

Qualitative Aussagen der Befragten führen zu widersprüchlichen Ergebnissen

Die Befragung der Absolventinnen und Absolventen bietet Material für Diskussionen. Beginnen wir bei den Motiven: Die Absolvent/innen geben an, dass in erster Linie intrinsische Motive (persönliche Weiterentwicklung, interessante Lerninhalte) ihren Entscheid beeinflusst haben, eine Erst- oder Zweitausbildung zu absolvieren. «94 Prozent aller Befragten absolvierten die berufliche Grundbildung aus innerem Antrieb heraus.» (S. 87). Existenzsicherung folgt mit 85% als ziemlich bis sehr wichtiger Grund. Weit abgeschlagen (32%) werden extrinsische Ausbildungsmotive genannt, z.B. der Wunsch des privaten Umfelds, die Nicht-Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder gesundheitliche Gründe.

Bei den «Zweitausbildungen» gilt es zu unterscheiden!

Von einer Zweitausbildung spricht man, wenn jemand einen zweiten Abschluss erwerben will, um seine beruflichen Möglichkeiten zu erweitern. Typische Beispiele sind der Maurer, der noch eine Zeichnerlehre absolviert, oder die Bekleidungsgestalterin, die sich kaufmännisch ausbilden lässt, um ein Atelier zu führen.

Zu den Absolventen einer Zweitausbildung werden aber auch Personen gezählt, die sich gezwungen sind, eine neue Grundausbildung anzueignen, weil die erste wertlos geworden ist. Typische Beispiele sind Personen mit einer Ausbildung, die von der Entwicklung überholt wurde (z. B. Fernmelde- und Apparatemonteurin, Schriftenmaler) oder vom Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt wird (Papiertechnologe, Kürschnerin): Zu dieser Gruppe gehören auch Person, die den erlernten Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben können.

Manche Zweitausbildungen (Anteil leider unbekannt) werden also aufgrund von erzwungenen Berufswechseln oder Stellenlosigkeit und nicht als folgerichtiger Karriereschritt durchlaufen. Genau wie Personen ohne Erstausbildung verfügen sie über keine «arbeitsmarktrelevante Ausbildung».

Ich frage mich ob die häufige Nennung von intrinsischen Motiven eine Folge der positiven Wertung dieser Faktoren in der Bevölkerung ist. Wird diese Angabe für bare Münze gehalten, könnten Arbeitslosenkassen und Sozialbehörden fragen, weshalb sie eine solche Ausbildung finanzieren sollen.

Auch andere Aussagen scheinen mir nicht sehr plausibel: Beispielsweise fühlen sich 48% nach der Ausbildung nicht kompetenter als vorher (S. 110).

Zu denken gibt, dass laut der Aussagen der Befragten der Lohn 1 bis 1,5 Jahre nach Abschluss nur bei 45% gestiegen ist. Sozialämter unterstützen Nachholbildungen in der Annahme, dass sich dank steigendem Einkommen eine weitere Unterstützung erübrigt. Ihnen muss erklärt werden, dass der Erwerb einer Grundausbildung heute oft erst indirekt über eine Weiterbildung oder eine Kaderposition einkommensrelevant wird.

Der Vergleich von Erwartungen mit der Realität nach der Ausbildung stimmt pessimistisch: Mehr Verantwortung konnten nur 8% derjenigen Personen übernehmen, die dies als einen wichtigen Grund für die Aufnahme der Ausbildung bezeichneten. Von denen, die mehr Anerkennung erwarteten, hat sich dies bei 7% verwirklicht, interessantere Aufgaben haben 1% bekommen. (S. 113) Wie vorsichtig die Angaben zu werten sind, zeigt sich allerdings, wenn die Befragten im Gegensatz zu den oben referierten Angaben in einem anderen Zusammenhang von grossen Erfolgen berichten: Es «geben fast alle Befragten (89%) an, dass sich für sie in mindestens einem Lebensbereich seit dem Ausbildungsabschluss etwas zum Positiven verändert hat. Sei dies, weil sie sich heute bei der Arbeit kompetenter fühlen (52%) oder durch die Ausbildung an Selbstvertrauen gewonnen haben (48%). Oder sei dies, weil sie mehr Lohn verdienen (46%) oder mehr Verantwortung in ihrer Arbeit (42%) übernehmen.» (S. 116) Was gilt jetzt?

Zu diskutieren sind auch die Aussagen zur finanziellen Situation: Nur ein Drittel aller Befragten erlebten die finanzielle Situation als schwierig (S. 106). 65% erhielten Unterstützung, besonders oft von Arbeitgebern. (Abb. 24). Also ist die finanzielle Situation kein drängendes Problem? Beachten wir, dass in diese Auswertung ausschliesslich Personen einbezogen wurden, die die Ausbildung vollständig durchlaufen haben, die also einen Weg zur Finanzierung ihrer Ausbildung gefunden haben. Bei denjenigen, die verzichtet oder abgebrochen haben, dürften diese Werte deutlich anders aussehen!

10% der Erwachsenen, die eine Erstausbildung abgeschlossen haben, sind ein bis eineinhalb Jahre nach dem Abschluss erwerbslos. Nach einer zweijährigen Ausbildung sind es sogar 19%. Dies muss aufhorchen lassen, soll doch der Erwerb einer Ausbildung die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Die hohen Werte können ein bis eineinhalb Jahre nach Abschluss nicht mit Übergangsproblemen (friktionelle Erwerbslosigkeit) erklärt werden. Vielleicht sind Stellenlose überrepräsentiert unter den 42% der Befragten, die die Umfrage beantwortet haben. Trotzdem: Dieser hohe Wert muss Anlass zu weiteren Abklärungen geben, wenn der Nutzen der Nachholbildung nicht in Zweifel gezogen werden soll!

Wie gesagt: Die Resultate dieser Befragung geben Stoff für Diskussionen!

Angaben zu den beiden Studien

Zitiervorschlag

Wettstein, E. (2017). Berufsabschluss für Erwachsene: Neue Daten – neue Fragen. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 2(3).

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