Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Integrationsvorlehre (INVOL)

Zwischen Integrationspflicht und Prestigepflege

Als Reaktion auf den Flüchtlingsstrom in die Schweiz lancierte das Staatssekretariat für Migration 2015 die Integrationsvorlehre (Invol). Sie wird seit 2018 in zwölf recht unterschiedlichen Berufsfeldern angeboten. Die Öffnung der Berufe für Flüchtlinge stiess bei einigen Organisationen der Arbeit (OdA) auf Widerstand, während andere das Programm bereitwillig umsetzten. So bestand die Befürchtung, dass die Invol bestehende Lehrgänge abwerte. Die vorliegende Untersuchung zeigt, wie verschiedene Berufsfelder mit dem Dilemma umgingen, ihr Berufsprestige zu schützen und dennoch Flüchtlinge zu integrieren.


Einleitung

In prestigeträchtigeren Berufen wurde die Invol zögerlicher etabliert. Zwei Motive haben die OdA dennoch überzeugt: einerseits erarbeiteten sie sich so das Entgegenkommen von externen Ansprechpartnern, andererseits vermieden sie, dass andere Akteure in ihrem Berufsfeld eine Invol anboten.

Die Integrationsvorlehre wird in zwölf Berufsfeldern angeboten, von der Logistik bis zur Fleischwirtschaft haben unterschiedlichste Berufe das Programm implementiert (vollständige Liste ganz unten). Ebenso unterscheidet sich der Umfang der berufsspezifischen Inhalte in den angebotenen Invol-Programmen je nach Berufsfeld stark. Manche Organisationen der Arbeit (OdA) haben sich bemüht, möglichst viele Inhalte aufzubereiten, während andere darauf achteten, Überschneidungen mit dem ersten Lehrjahr des Eidgenössischen Berufsattestes (EBA) zu vermeiden. Diese Unterschiede lassen sich erklären, wenn man die Strategien berücksichtigt, mit denen die Berufsfelder ihr Ansehen schützen.

In der Literatur werden hauptsächlich zwei solche Strategien genannt. Eine erste besteht darin, den Zugang zu einem Berufsfeld zu beschränken (Zhou 2005). Zweitens erhöht sich das Prestige eines Berufs durch Spezialisierung und Qualitätsarbeit (Goode 1957: 195). Die Umsetzung einer Invol könnte das Prestige eines Berufsfeldes beeinträchtigen, weil sie den Zugang erleichtert, indem es Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene auf eine Berufslehre vorbereitet. Zudem gelangen durch Invol zusätzliche Personen in das Berufsfeld. Im Hinblick auf die Umsetzung der Invol lassen sich zwei Erwartungen aufstellen:

  1. Die OdA beschränken den Zugang zu ihrem Berufsfeld für Flüchtlinge, um das Prestige ihres Berufs zu erhalten.
  2. Die OdA setzen sich für eine qualitativ hochstehende Ausbildung der Flüchtlinge ein, um das Prestige ihres Berufsfelds zu erhalten.

Die OdA spielten eine zentrale Rolle bei der Implementierung der Invol. Sie entschieden, ob sie das Programm umsetzen und bezeichnen die berufsspezifischen Elemente im Programm. Die Invol ist ein duales Ausbildungsprogramm mit mindestens acht Wochen betrieblicher Ausbildung. Daneben besuchen die Flüchtlinge ein schulisches Angebot mit Deutschkursen und allgemeinbildenden Fächern. Die Invol-Programme der verschiedenen Berufe unterscheiden sich stark.

Anspruchsvolle Umsetzungen

In einer ersten Gruppe von Berufen waren die OdA sehr engagiert und haben sich nicht nur auf die Entwicklung der Curricula beschränkt, sondern auch Betriebe rekrutiert und Kurse in den Trainingszentren der OdA (dritter Lernort) organisiert. In dieser Gruppe finden wir das Baunebengewerbe, die Gastronomie, die Landwirtschaft, die Gebäudereinigung und die Logistik.

In diesen Berufen sind die Invol-Curricula relativ anforderungsreich, die Flüchtlinge lernen viele berufsspezifische Tätigkeiten. Die Schweizerische Vereinigung für die Berufsbildung in der Logistik druckte für den Invol-Lehrgang neues Lernmaterial. Flüchtlinge in der Invol der Logistik absolvieren auch Trainingstage in einem Trainingszentrum, um den Umgang mit Gabelstaplern zu erlernen. Polybau hat ein ähnlich detailliertes Curriculum entwickelt und bietet den Flüchtlingen ebenfalls einen Kurs in ihrem Ausbildungszentrum an. Die Invol-Lernenden Polybau werden zudem auch mit Schuhen und Arbeitskleidung ausgestattet, damit der Übergang in die Betriebe klappt.

Diese Berufe zeichnet aus, dass sie normalerweise Jugendliche ausbilden, die eine schwierige Schulzeit hinter sich haben. Die Ausbildenden sind es sich gewohnt, einen Beitrag zur Sozialisierung dieser Jugendlichen zu leisten. Ein Interviewpartner von Polybau erklärte:

«Wer integriert denn schwierige Jugendliche in den Arbeitsprozess? Wo gehen die schwierigen Jugendlichen hin? Die landen auf dem Bau. Diejenigen, die nicht gut in der Schule sind, machen ja nicht das KV, oder Chemielaborant (…) Und Schulschwache sind meistens jene, die ein bisschen schwierig sind. Wir haben einen sehr hohen Anteil von schwierig auszubildenden Jugendlichen. Und wir sozialisieren sie: all jene, welche die Lehre bestehen, werden durch die Baubranche sozialisiert.»

Diese Gruppe von Berufen verfolgt die Strategie, ihr Berufsprestige zu erhalten, indem sie den Invol-Lernenden eine qualitativ hochstehende Ausbildung ermöglicht. Seit jeher leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Integration von Migrantinnen und Migranten, und sie hegen die Erwartung, dass viele der Flüchtlinge mit oder ohne Integrationsvorlehre in ihrem Beruf arbeiten werden.

Pragmatische Gründe

Eine zweite Gruppe von Berufen hat sich ebenfalls bei der Umsetzung von Invol engagiert: Printmedienpraktik/Medientechnologie (Viscom), Gleisbau (Login) und Detailhandel (Migros und Coop). Auch hier wurden die Mitglieder kontaktiert und das Programm beworben, um Ausbildungsplätze zu generieren. Kurse am dritten Lernort finden aber keine statt. Diese Gruppe dürfte sich spezifische Prestigegewinne erhoffen: So engagierte sich Viscom zur Zeit der Implementierung der Invol gegen neue Beschaffungsregeln, welche es den Bundesbehörden erlaubt hätten, Druckwaren im Ausland zu beziehen. Migros und Coop haben Invol genutzt, um sich als sozialverantwortliche Arbeitgeberinnen zu zeigen; beide Detailhändler haben ihre Umsetzung in ihren Wochenzeitungen beworben. In ähnlicher Weise stand Login unter politischem Erwartungsdruck; die SBB wurde vom Bundesrat direkt aufgefordert, die Invol umzusetzen.

Eine dritte Gruppe von OdA hat das Programm erst implementiert, als andere Akteure sich anschickten, eine Integrationsvorlehre in ihrem Berufsfeld umzusetzen. So plante Login eine Invol in den Bereichen Mechanik und Automation – eine Domäne von Swissmem. Auch Suissetec wurde erst aktiv, als der Kanton Zürich begann, ein solches Programm im Bereich Gebäudetechnik umzusetzen. Diese OdA versuchten, den praktischen Ausbildungsteil gering zu halten, damit es keine Überschneidungen mit dem Inhalt des ersten Lehrjahrs gibt. Dies entspricht den theoretischen Erwartungen: Die Berufsverbände bemühten sich, den Zugang zu ihren Lehrgängen zu schützen, um so das Berufsprestige zu erhalten.

Fazit

Es gibt bemerkenswerte Unterschiede in den Umsetzungen der Integrationsvorlehre (Invol) durch die Organisationen der Arbeitswelt (OdA). Diese Unterschiede lassen sich teilweise dadurch erklären, dass die OdA das Prestige ihrer Berufe schützen.

OdA, die das Programm bereitwillig umsetzten, haben Erfahrung in der Ausbildung von Jugendlichen mit schwierigen Schulbiografien (z.B. Logistik, Baunebengewerbe, Gastronomie). Diese Berufe nehmen seit je her Migrantinnen und Migranten auf und wissen, dass sie den Zugang zu ihren Berufen kaum beschränken können. Sie investieren daher in die Ausbildung, um qualitativ hochstehende Arbeit zu ermöglichen und auf diese Weise ihr Berufsprestige zu schützen. Die Invol-Curricula in diesen Berufen bieten viel berufsspezifischen Inhalt und die OdA bemühen sich, Unternehmen zu rekrutieren und die Flüchtlinge optimal auf den Berufseinsatz vorzubereiten.

In prestigeträchtigeren Berufen wurde die Invol zögerlicher etabliert. Zwei Motive haben die OdA dennoch überzeugt: einerseits erarbeiteten sie sich so das Entgegenkommen von externen Ansprechpartnern, andererseits vermieden sie, dass andere Akteure in ihrem Berufsfeld eine Invol anboten. In den Curricula in diesen Berufsfeldern sind die berufsrelevanten Inhalte beschränkt, damit der Zugang zu den regulären Programmen nicht über Gebühr vereinfacht wird.

Literatur

  • Goode, William J. 1957. Community Within a Community: The Professions, American Sociological Review, 22: 2, 194-200.
  • Zhou, Xuegang. 2005. The Institutional Logic of Occupational Prestige Ranking: Reconceptualization and Reanalyses, American Journal of Sociology, 111: 1, 90-140.
Zitiervorschlag

Aerne, A. (2020). Zwischen Integrationspflicht und Prestigepflege. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(3).

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